Sommerferien in NRW. Herrlich leere Straßen, Busse und Nahverkehrszüge.
Die ICE-Strecke zwischen Duisburg und Essen ist komplett für sechs Wochen gesperrt. Heißt: Die ICEs starten dann nicht in Dortmund, sondern in Düsseldorf. Prima!
Aber: der ICE, der aus München kommt und in Düsseldorf gleich wieder retour fährt, kommt 35 Minuten zu spät. Das hätte mich schon misstrauisch machen sollen. Aber die fahrplanmäßige Abfahrtszeit könnten wir noch locker packen.
Auch wenn man die Ladezeit der beiden arabischen Frauen -ich tippe mal auf Schwestern- mit berücksichtigt. Zwei riesige Schrankkoffer in pink, ein Zwillingskinderwagen (Sitze quer angeordnet und merkwürdigerweise leer) und ein sonnenblumenbedruckter Einkaufstrolley. „Bitte nicht einsteigen“ steht zwar als Hinweis zunächst groß auf der Anzeige am Bahnsteig und am Zug, macht aber nur auf deutschstämmige Reisende wirklich Eindruck.
Die beiden Schwestern mit den pinken Koffern jedenfalls beginnen, kaum dass der ICE zum Stehen gekommen ist, mit dem Boarding. Als Kavalier alter Schule biete ich natürlich meine Hilfe an, merke aber spätestens bei meiner flapsig formulierten Bemerkung, in den Koffern seien wohl Pflastersteine drin, dass beide kein Wort Deutsch sprechen. Das Gepäck passt weder in die Ablagen über den Sitzen noch in die Gepäckabteile. Deshalb wird alles strategisch günstig im Gang platziert: (vom Eingang beginnend) der leere Zwillingskinderwagen, die beiden pinken Schrankkoffer, der sonnenblumenbedruckte Einkaufstrolley und dann in der ersten Sitzreihe die beiden Damen, ein Dauergrinsen im Gesicht, den Blick stets fest auf ihre Habseligkeiten gerichtet.
Die Geräusche, die dann von der Turbine ins Innere dringen, lassen einen erfahrenen Bahnkunden nichts Gutes ahnen. Die Durchsage tut ein „kleines technisches Problem“ kund. Das behoben zu sein scheint, als wir mit 26minütiger Verspätung starten. Zum Anschluss in Frankfurt wird’s knapp. Die beiden Damen mit den arabischen Wurzeln und den pinken Schrankkoffern schauen abwechselnd sich und dann mich, jetzt eher ratlos grinsend, an. Vermutlich sind sie auf dem Weg zum Flieger.
Nach weiteren acht Minuten, noch auf Düsseldorfer Stadtgebiet, verstummen die Antriebsgeräusche urplötzlich, der Zug rollt aus und bleibt in gespenstischer Stille auf freier Strecke stehen.
Der Stromabnehmer, so die Durchsage, hängt. Wegen eines „Schleifleistenbruchs“. Krass! Ich würde mal behaupten, dass selbst technikaffine Bahnkunden bis zu diesem Moment nichts von der Existenz einer solchen Leiste am Stromabnehmer Kenntnis hatten. Auch die beiden Damen mit den arabischen Wurzeln und den pinken Schrankkoffern nicht. So wie die sich jetzt angucken. Auf Arabisch heißt Schleifleistenbruch laut Google-Übersetzer übrigens طحن فتق. Ich zeige das den beiden auf meinem I-Pad; die Ratlosigkeit bleibt; auch das Grinsen. Nur in ihren den Augen glaube ich den was-will-der-Bekloppte-bloß-von-uns-Blick zu erkennen.
Ist Vermutlich auch gar nicht deren Dialekt, was Google da liefert.
Nach einigen Minuten brummt der Zug zwar wieder gleichmäßig, aber vor einer möglichen Weiterfahrt steigt der Lokführer erst einmal aus, um zu schauen, ob sich der Bruch wieder „behoben“ habe. Hä? Durch Selbstheilung? Zweifel kommen auf. Aber irgendwann geht’s tatsächlich weiter. Wir hängen zwar jetzt schon eine Stunde, der Stromabnehmer aber offensichtlich nicht mehr. Die Verbindung in Frankfurt ist trotzdem längst zum Teufel. Die beiden Damen aber grinsen mich unter ihrem Hijab begeistert an.
Knapp 900 Reisende, heute überwiegend Urlauber, viele auch, die zur Weiterreise zum Frankfurter Flughafen wollen, erleben jetzt das Krisenmanagement der Bahn hautnah. Ansagen kommen gar nicht oder verspätet. Keine einzige auf Englisch. Als wir auf Kölner Hoheitsgebiet zurollen, kommt die Ankündigung, dass der Zug nicht, wie geplant, über Köln-Messe-Deutz, sondern über Hauptbahnhof fährt und dort endet! Alternative Verbindungen gibt man erst bekannt, als wir fast schon auf dem Bahnsteig stehen:
Entweder mit dem ICE aus Brüssel von Gleis 4 „am selben Bahnsteig direkt gegenüber“ oder mit der S-Bahn nach Deutz und dort umsteigen in einen Zug Richtung München.
Nachdem ich die beiden riesigen pinken Schrankkoffer, den Zwillingskinderwagen und den sonnenblumenbedruckten Einkaufstrolley ausgeladen habe, versuche ich, den jetzt wieder ratlos grinsenden arabischstämmigen Schwestern die alternativen Weiterreisemöglichkeiten näher zu bringen. Ich empfehle ihnen Variante A auf Gleis 4 „am selben Bahnsteig direkt gegenüber“, bin selbst aber noch unentschieden. Schließlich fahre ich nach Deutz. Eine weise Entscheidung, wie sich später noch herausstellen soll.
Der Bahnsteig in Deutz ist gut gefüllt mit gestrandeten Passagieren (darf man die jetzt eigentlich „Zugbrüchige“ nennen?). Und kurz bevor der Zug einrollt stehen plötzlich zwei riesige pinke Schrankkoffer, ein Zwillingskinderwagen, ein sonnenblumenbedruckter Einkaufstrolley und zwei grinsende Araberinnen hinter mir. Sind die hinter mir her gewatschelt? Ich hab‘ nicht drauf geachtet. Zusammen mit einem Zugbegleiter, der mich wohl für einen Angehörigen der beiden hält, laden wir die riesigen pinken Schrankkoffer, den Zwillingskinderwagen und den sonnenblumenbedruckten Einkaufstrolley in den ICE, der als einteiliger daher kommt und selbst in der ersten Klasse ruckzuck voll ist.
Ich bleibe in weiser Vorahnung auf dem Bahnsteig zurück und laufe ganz nach vorne an die Zugspitze, wo in der „Panorama-Lounge“ gleich hinterm Lokführer noch Plätze frei sind.
In Frankfurt-Main-Flughafen-Fernbahnhof überfüllen weitere Menschenmassen den Zug. Dank meines exklusiven Platzes bekomme ich die Kommunikation im Fahrerstand unmittelbar mit und habe so einen gewissen Informationsvorsprung vor allen anderen Mitreisenden.
Da wäre zunächst eine „Blockstörung“ direkt vor uns, die grad die Weiterfahrt verhindert. Ein Start wäre aber sowieso nicht möglich, weil die Zugbegleiterin wegen der zahlreichen Gepäckstücke, die die Gänge und damit die Fluchtwege blockieren, mit der Zugräumung droht (spontan kommen mir zwei riesige pinke Schrankkoffer, ein Zwillingskinderwagen und ein sonnenblumenbedruckter Einkaufstrolley in den Sinn).
Und dann kommt auch noch ein Bahnkollege auf dem Bahnsteig, der offenbar frei hat, ans Fenster klopft und unseren Lokführer darüber informiert, dass es einen Böschungsbrand bei Mörfelden gebe, von dem auch Gefahrgüter betroffen seien. Vielleicht haben die auch erst die Böschung in Brand gesetzt.
Von Frankfurt-Main-Flughafen-Fernbahnhof bis Frankfurt-Main-Hauptbahnhof geht es dann im Schritttempo dermaßen langsam voran, dass ich schon befürchte, von zwei riesigen pinken Schrankkoffern, einem Zwillingskinderwagen und einem sonnenblumenbedruckten Einkaufstrolley überholt zu werden. Aber die checken bestimmt schon am Etihad-Schalter ein und feilschen um die Gebühren für Sperrgut und Übergepäck.
Fast eine halbe Stunde brauchen wir. Während dieser Schleichfahrt hört man ständig eine synthetische Stimme aus dem Cockpit „Störung, Störung, Störung, …“. Ganz schön freaky das alles heute. Zu guter letzt hat die Bahnmitarbeiterin „keine Informationen“ über Anschlusszüge in Frankfurt vorliegen. Wie bitte? Wir reden hier von dem Bahn-Drehkreuz in Deutschland.
Während wir zunächst einen halben Kilometer vor der Einfahrt geparkt werden, überlege ich, ob ich mir vor der Weiterfahrt (die ja immer noch im Bereich des Möglichen liegt) noch ein Fischbrötchen oder lieber eine Flasche Ouzo reinpfeifen soll.
Meine „alternative Verbindung“ hätte ich jetzt auch verpasst. Aber die steckt noch in der Streckensperrung wegen des Gefahrgutbrandes.
Am Frankfurter Bahnhof herrscht indes Chaos. Lange Schlangen vor den Info-Schaltern. Mitten drin -ich fass es nicht- zwei riesige pinke Schrankkoffer, ein Zwillingskinderwagen, ein sonnenblumenbedruckter Einkaufstrolley und zwei Hijabs. Bevor sie mich wieder hilfesuchend angrinsen können, suche ich hinter einer Plakatwand Deckung.
Über Lautsprecher höre ich, dass es der Brüsseler ICE (s.o.) nur bis zum Flughafen geschafft hat. Seine Fahrt zurück wird komplett gestrichen. Genauso wie letztendlich auch meine „alternative Verbindung“.

Das Highlight des heutigen Tages: fünf Zugbegleiter, die vor Bahnsteig 15 hilf- und ratlos zusammenstehen, weil die Züge, auf denen sie eingesetzt sind, schlichtweg nicht vorhanden sind. „Wir wissen ja selbst nicht Bescheid“, wird einem Reisenden beschieden, der die Gruppe um Auskunft bittet.
Nach einer Tüte Fish & Chips (Grosch war auch schon mal besser) ein Lichtschein am Ende des Tunnels (Ha, tolles Bild!): Ein „Sprinter“ nach Berlin, der hier eingesetzt wird und nonstop bis Erfurt brettert. Jede Menge reservierte Plätze bleiben leer, weil die Zubringerzüge irgendwo auf der Strecke geblieben sind.
Zweieinhalb Stunden später als geplant erreiche ich Erfurt.
Die Rückfahrt: Bis kurz vor Offenbach war ich noch gedämpft optimistisch, von einer störungsfreien Verbindung berichten zu können. Dann die Durchsage, dass wir dort „so viele Fahrgäste wie möglich aus einem havarierten ICE“ aufnehmen würden. Bedingt durch diesen zusätzlichen Halt, werde daraus eine Verspätung von 25 Minuten resultieren. By the way: ich sitze in einem „Sprinter“, der bis Offenbach auf die Minute pünktlich ist und Offenbach liegt gerade mal 11 Minuten vor Frankfurt. Die „Zugbrüchigen“ dort wird’s freuen; für mich ist die heutige Reise- und Tagesplanung (mal wieder) für’n Arsch.
Über den Feuerwehreinsatz und die damit verbundene Streckensperrung, den die Äpp mir meldet, informiert die Crew an Bord (noch) nicht. Vielleicht war die Feuerwehr ja auch in dem havarierten Zug.
Meinen Anschluss in Frankfurt-Main-Hauptbahnhof erreiche ich trotzdem. Denn in ihrer Unzuverlässigkeit ist auf die Bahn Verlass. Weichenstörung hinter Frankfurt.
Bedeutet: 15 Minuten Verspätung. Bedeutet: es geht weiter. Mit einem kleinen Zusatz-Gag: Außen am Zug steht zwar die Wagennummer 29, drinnen aber ist es der Wagen 39.
Erschöpft und gestresst sinke ich in den lederbezogenen Erste-Klasse-Sitz und kurz vorm Eindösen meine ich, auf dem Bahnsteig zwei riesige pinke Schrankkoffer, einen leeren Zwillingskinderwagen und einen sonnenblumenbedruckten Einkaufstrolley vorüber gleiten zu sehen.
Ich mache mich ganz klein in meinem Sitz.
Sie haben ja an ihrem ICE noch einen weiteren Stromabnehmer. Der Lokführer an die Profilfreiheit des defekten geprüft, dann ging es weiter.
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