Drei Wochen Urlaub liegen hinter mir und offenbar hat man bei der Bahn meine Rückkehr auf die Schiene sehnlichst erwartet. Das Unternehmen zieht alle Register:
- Verspätung des ursprünglich gebuchten RE (wodurch ich den ICE in Wuppertal verpasst hätte,
- die stattdessen genommene, in der Äpp nicht existente S8 fährt heute nur mit einem Zugteil,
- Verspätung des ICE wegen gelockerter Schrauben im Kölner Hauptbahnhof und an der Hohenzollernbrücke (das ist die mit den Vorhängeschlössern),
- keine Reservierungsanzeige im Zug,
- mehrere mit übersteuerten Kopfhörern bestückte Geschäftsreisendenschädel (Violinkonzert, Lionel Ritchie und Hip Hop),
- eine auf 15 Grad eingestellte Klimaanlage,
- eine 30köpfige Gruppe Schüler*innen aus England in einheitlich roten Regenjacken (heute sollen es 30 Grad werden), die in Wagen 33 vorne reserviert haben, aber in Wagen 34 hinten einsteigen. Begleitet von einer Lehrerin, die im Stil einer Armee-Ausbilderin im Kasernenton ihre Truppe auf Englisch dirigiert und parallel in bestem Deutsch die anderen Passagiere über die Verantwortung für und die Probleme mit einer solchen Schülerschar informiert,
- dutzende verspätete Anschlusszüge in Hannover und
- als Sahnehäubchen ein Sitznachbar, der entweder Fingernägel oder eine Stange aus seinem zwei-Kilo-Möhrenproviant knabbert.
Auch heute habe ich wieder einen Sicherheitspuffer von einer Stunde eingeplant. Eine weise Entscheidung zwar, aber ein trauriges Urteil für einen Dienstleister.
Grad gestern gab es im Fernsehen einen Bericht über den Stellenwert des Bahnwesens und des ÖPNV in der Schweiz (hier zeitlich begrenzt in der Mediathek abrufbar). Alles ist aufeinander abgestimmt. Der Bahnverkehr mit den Fahrplänen der Stadt und der Postbusse. Der so genannte „30-Minuten-Takt“ garantiert die Weiterfahrt von jedem Konotenpunkt innerhalb von 30 Minuten. Überall startet um „ganz“ und um „halb“ ein Zug oder Bus. In Arbeit ist derzeit die Verwirklichung des „15-Minuten-Taktes“. Bemerkenswert, dass dort jährlich pro Einwohner 365 Euro ins Schienennetz investiert wird. In Deutschland sind es gerade einmal 77,00 Euro. Damit liegen wir an drittletzter Stelle in Europa!
Statt mehr Geld zu investieren wäre es unserem Verkehrsminister aber auch zuzutrauen, dass er das Netz übersichtlicher gestalten und sich bspw. an Australien orientieren könnte:

Oder an einem europäischen Vorbild. Griechenland etwa:

Vor der Rückfahrt stürzt ein älterer, heftig verschwitzter Mensch an mir vorbei, den ich von irgendwoher zu kennen glaube. Der Gedanke an einen Politiker liegt hier in Berlin natürlich nahe, die Umgebung bringt mich dann drauf. Das war Karl-Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn, der sich immer so nett für meine Rechte als Bahn-abhängig Reisender einsetzt. Der DB-Opferschutzbeauftragte sozusagen, der immer dann sein Gesicht in eine Kamera hält, wenn eine neue Verspätungsstatistik veröffentlicht, das marode Schienennetz kritisiert oder irgendwo in der Republik eine Bahnhofshalle restauriert wird.
Den hätte ich am besten gleich mal mit in meinen ICE geschleppt, der zwar 10 Minuten vor der Zeit im Bahnhof bereitsteht, aber denselben 13 Minuten verspätet verlässt. Dem Lokführer fehlten Fahrplanunterlagen. Der Kerl hatte wohl kein Internet für sein Googlemaps. Vielleicht sollte er sich mal die Bahn-Äpp besorgen.
13 Minuten Verspätung bedeuten schon jetzt am Abfahrtsbahnhof, dass ich den Anschlusszug in Duisburg verpassen werde. Zum Glück bin ich heute nicht auf den Bus in der Vitusstadt angewiesen. Dass man da nicht wirklich von Glück sprechen kann, sollte sich erst fünf Stunden später herausstellen.
Die Zeit nutzt die Oma neben mir (ohne Platzreservierung, weil „das Geld kann man sich auch sparen“), ihr Leberwurstbutterbrot auszupacken und genüsslich schmatzend zu genießen. Da im voll besetzten Waggon gefühlt 50 Grad herrschen, haben zumindest geruchstechnisch alle etwas davon.
In Spandau, ungefähr auf halber Leberwurstbutterbrotstrecke, kommt dann der Herr, der ihren Platz reserviert hat. Wir sind schon fast in Wolfsburg bis Oma eingepackt, ihre Sachen zusammengesucht und eine Entscheidung getroffen hat, in welche Richtung sie sich nun auf Platzsuche begibt.
In Hannover wird’s richtig voll. Bunt gekleidete und ausgerüstete Kirchentagsbesucher auf dem Weg nach Dortmund, Geschäftsreisende und Brückentag-Urlauber.
(Wer hat die meisten Brückentage? Genau! Captain Jean-Luc Picard).
Eine allein reisende Mutter mit drei Jungs im Kindergartenalter -Florian, Moritz und Philipp- hat vier Plätze im „Familienabteil“ gebucht. Das sind liebevoll gestaltete Bereiche im Großraumwagen, die sich nur durch einen Klebestreifen an der Decke mit der Aufschrift „Familienabteil“ von anderen unterscheiden.
Es dauert, bis die vier Erwachsenen mürrisch die für die Familie reservierten Plätze frei geräumt haben. Aber die Mama hat alles im Griff. Moritz begibt sich unmittelbar ins Reich der Träume, Florian hört Märchen über Kopfhörer und Philipp nölt sich von Bahnhof zu Bahnhof. Kritisch wird es erst bei „Uno“.
Philipps Vorschlag. Florian, der Jüngere, total keinen Bock. Philipp erklärt ungehalten permanent die Regeln und kritisiert die Dummheit seines Bruders, der, obwohl er gewonnen hat, unmittelbar nach Spielende in Tränen ausbricht. Dabei verschluckt er sich auch noch an einigen Kekskrümeln, was einen heftigen Hustenanfall auslöst.
In das Chaos von Weinen, Husten und herumfliegenden De Beukelaer-Bruchstücken hinein fordert Mami mehrfach und nachdrücklich von Philipp, er solle seinem Bruder doch mal auf den Rücken klopfen, was dieser jedoch prinzipiell und konsequent verweigert. Seine Antwort: „Warum?“ kommentiert dann der von der Hustenattacke aufgeweckte Zwerg: „Weil der sonst tot geht?!“
Im bekanntlich nicht vorhandenen Bielefeld ist unser Zug nicht kompatibel mit dem vorhandenen Bahnsteig. Die Trittstufen lassen sich nicht ausfahren. Zum Glück hat die Bahn mitgedacht und einige Sherpas engagiert, die die Fahrgäste auf ihre Rücken laden und im Huckepack bis zur Bahnhofshalle tragen (Spaß!).
In Dortmund kommen nochmal fünf auf die bereits eingefahrenen 20 Minuten Verspätung obendrauf: Ein Elektrorollstuhl von den Ausmaßen eines Kleinwagens ist zwar in Berlin in den Waggon hinein rangiert worden, will jetzt aber nicht mehr raus. Erschwert wird die ganze Prozedur durch die Tatsache, dass die Fahrerin offenbar einen Großteil ihres Hausstands, verpackt in einem halben Dutzend Tüten und Taschen rund um sich herum an dem Gefährt befestigt hat und willige Helfer mit permanentem Schimpfen verschreckt.
Verzögert wird die Weiterfahrt auch, weil ein auf dem Nachbargleis als wartend angekündigter Anschlusszug eben nicht wartet und vor den Augen bereits ausgestiegener Reisender abfährt. Und die müssen nun erstmal wieder zurück in unseren ICE.
Die Stimmung im Zug ist jetzt nach dem Ausstieg der ständig fröhlich grinsenden Kirchentagsbesucher praktisch auf dem Nullpunkt. Die Alkoholmenge, die nötig wäre, daraus einen Partyzug zu machen, mag man sich gar nicht vorstellen.
In Düsseldorf haben wir schließlich 33 Minuten Verspätung.
Die Zeit hat ein Unwetter genutzt, sich in den Westen vorzuarbeiten, was mir meine Freude darüber, dass ich heute nicht auf den Bus angewiesen und ich mit dem Motorrad unterwegs bin, schlagartig zunichte macht. Eine Regen-Kombi habe ich natürlich nicht dabei. Unter diversen Brücken immer wieder Schutz suchend und auf Wolkenlücken hoffend, taste ich mich Richtung Heimat. Am Ende sehe ich aus, als wäre ich von Berlin nach Niederkrüchten geschwommen. In Klamotten natürlich.