Die letzte (kurze) Reise 2018 führt mich im RegionalExpress von Köln zurück über die Vitusstadt direkt hinein in die Weihnacht. Mein ganz persönlicher Polarexpress sozusagen.
Ich hab noch einen Platz erwischt auf einem der Klappsitze im so genannten „Mehrzweckabteil“. Wo man Platz machen muss (meist unter Protest) für Reisende mit Fahrrad, Rolli oder Kinderwagen.
Ich lasse noch einen Sitz frei neben mir und der Schwarzafrikanerin, die seltsam schräg auf ihrem Platz hängt. Ihr etwa zweijähriger Junge im Kinderwagen vor ihr. Daneben sein etwas älterer Bruder. Starrt mich unentwegt an. Ohne eine Miene zu verziehen. Der im Kinderwagen plärrt unentwegt. Die Mutter scheint das nicht zu kümmern. Sie sitzt da in stoischer Ruhe, während in nicht enden wollenden Rinnsalen Tränen über das hübsche Gesicht rollen. Ich fühle mich unangenehm berührt. Merkwürdig ist das schon. Also besser Abstand halten. In diesen Zeiten.
Vielleicht ist sie überfordert mit den Jungs. Oder hat keine Fahrkarte. Oder Stress mit ihrem Mann. Ärger mit dem Sozialamt. Oder Sprengstoffgürtel unter’m Mantel und den Finger schon am Drücker (Spaß!).
Jedenfalls, wie ich da so sitze im voll besetzten Zug und vor mich hin grüble, sitzt er auf einmal neben mir: der liebe Gott. Zunächst bemerke ich ihn gar nicht. Mit seinem albernen olivgrünen Fahrradhelm und der braunen Cordjacke, über die er eine signalrote Warnweste gezogen hat. In Stommeln hatte er sein Trekkingrad in das Mehrzweckabteil geschoben, es festgezurrt und sich zwischen mich und die schräge Afrikanerin gezwängt.
Auf ihn aufmerksam werde ich erst durch das blöde Grinsen, mit dem er mich permanent fixiert. Dann aber erkenne ich ihn und weiß auch, warum er so grinst. Als lieber Gott weiß er schließlich, dass ich ihn gleich anquatschen und mit einer existenziell-philosophischen Frage nerven werde. Und nach einem erschreckten „Oh Gott!“, was ihn noch breiter grinsen lässt, tue ich ihm den Gefallen. Wie er es denn zulassen könne, bricht es förmlich aus mir heraus, dass die Deutsche Bahn und ihre Fernverbindungen derart im Chaos versinken. Und wann es denn soweit sei, dass das ganze System nach Plan funktioniere.
Er arbeite dran, sagt er. Und eines Tages, da sei er sicher, werde alles perfekt funktionieren. Wann das denn sein werde, bohre ich nach und was er denn dazu beizutragen gedenke. Nun, er gehe davon aus -und er grinst noch immer-, dass es am Tag vor dem Jüngsten Gericht so weit ist. Und wie er die Menschen kenne -er schaut aus dem Fenster auf die Kühltürme der Kraftwerke im rheinischen Braunkohlerevier, an denen wir gerade vorbeifahren-, könne das auch gar nicht mehr so lange hin sein. Kurzfristig plane er konkret die Einführung der Reinkarnation speziell für Lokführer. Schließlich fehlten da im Moment so an die 5.000.
Allerdings befürchte er Ärger mit der katholischen Kirche, die ja so gar nichts von einer spontanen Wiedergeburt hielte. Da müsse man als Verstorbener bis zum jüngsten Gericht schön liegen bleiben. In Asien dagegen renne er damit offene Türen ein.
Das erstaunt mich. Ich dachte immer, nur wir hätten einen lieben Gott, der auch nur für uns zuständig wäre. Und am Tag der Auferstehung würden die anderen Kulturen blöd aus der Wäsche gucken. Nö, meint er, andere Götter neben sich hätte er noch nicht kennengelernt und er fände es „süß“ (er hat wirklich „süß“ gesagt), wie bunt und vielfältig man ihm mancherorts huldige. An die Show in katholischen Messen mit den tollen Kostümen und den Special Effects käme zwar sonst keiner ran. Aber am knuffigsten fände er die Japaner mit ihrem Shinto und den tausenden von Haus-Altären. Übrigens betrüge dort die durchschnittliche Verspätungszeit im Bahnverkehr ganze 53 Sekunden. Und jetzt solle ich mal überlegen, …
Also, wenn da ein Zusammenhang bestünde, wende ich ein: im Bereich der Deutschen Bahn spende man doch dauernd an die Kirche. Sei es sonntäglich über die Kollekte oder monatlich über das Finanzamt. Darüber hinaus renne man den Gotteshäusern zu Weihnachten doch die Türen ein. In Essen musste man sogar Eintrittskarten vergeben. Mehr Gottesfurcht ginge doch gar nicht.
Grundsätzlich wäre es aber nicht Sinn der Sache, ihn zu fürchten, merkt er an. Ehren und lieben wären angesagt, von ihm aus auch jubilieren (auch wenn manches Weihnachtsliedersingen für ihn knapp an der Grenze zur Körperverletzung sei). Fürchten solle man Misstrauen, Hass und Eigensinn.
Da muss ich ihm natürlich zustimmen. Und plötzlich ist die Stimmung gekippt. Sein Grinsen ist hinter tiefen Sorgenfalten verschwunden.
Nur noch er. Und ich. Und die weinende junge schwarze Frau im Zug.
Welche Gründe sie wohl habe, so zu weinen, fragt er mich. Vorsichtshalber halte ich mit meinen Vermutungen hinter’m Berg und gebe mich ahnungslos.
In ihrer Heimat herrscht Krieg. Sie war dort Lehrerin. Die Hälfte ihrer Familie starb bei einem Massaker. Nur die Flucht gab ihr Hoffnung, zu überleben. Tausende Kilometer hat sie zurückgelegt; die meisten zu Fuß. Mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Meist musste sie sie tragen. Ihre Füße sind im wahrsten Sinne des Wortes platt, ihre Hüfte ist steif, sie geht schief, kann kaum gerade sitzen. Ihr Mann ging auf dem Mittelmeer über Bord und ertrank.
Die schiefen Blicke der Deutschen machen ihr Angst, mehr noch als deren Scheinheiligkeit. Am schlimmsten aber ist für sie, dass es niemanden gibt in diesem Land, der bereit wäre, ihr Trost zu spenden.
Und jetzt hofft sie, dass die Angst, das Heimweh, die Schmerzen, die Trauer und die Trostlosigkeit in dem See, den sie mit ihren Tränen füllt, ertrinken.
Super, werfe ich ein, mit dem Schicksal der armen Flüchtlinge auf die Tränendrüsen drücken. (Wobei ihm der Kloß in meinem Hals signalisiert, dass er genau die voll getroffen hat). Dass die meisten von denen hier sowieso nur geduldet sind, wird schon seinen Grund haben.
Da legt er nach, der liebe Gott. Es könnte da auch die vereinsamte alte Frau aus Deiner Nachbarschaft, der Depressive aus Deiner Abteilung oder der Wohnungslose vom Bussteig 5 am Bahnhof der Vitusstadt sitzen. Ihr Dasein von der Gesellschaft geduldet, ihr Anblick von Dir erduldet.
Du blogst über verpasste Anschlüsse und verspätete Ankünfte? Diese Frau wird nie ankommen, kein Anschluss wird je auf sie warten.
Wir seh’n uns, sagt er dann kurz, zurrt den Helm fest, nimmt sein Fahrrad und steigt in Hochneukirch aus. Lässt mich einfach so da sitzen. Als der Zug anfährt, sehe ich ihn, tief nach vorne gebeugt, wie er sein Fahrrad Richtung Ausgang schiebt. Das breite Grinsen ist zurückgekehrt in sein Gesicht.
Das schwarze Balg starrt mich immer noch an. Das Weiße blitzt in seinen Augen. Ich zwinkere ihm zu. Er wendet sich verschämt ab, vergräbt den Kopf im Schoß seiner Mutter.
Sie blickt auf. Lächelt mich an. Sagt etwas, das ich nicht verstehe.
Er muss ja nicht immer das letzte Wort haben, der liebe Gott.