Die Hitzewelle des Jahres 2018 neigt sich ihrem Ende zu. Und auch die Zeit des zehnwöchigen Home-Office. Ich habe beides überlebt.
Die Bahn-Abstinenz hat ein Ende. Der Blog hat lange genug auf Futter gewartet!
Die erste Grausamkeit des Tages: Um 5:45 Uhr geht der Wecker.
Die zweite: Zunächst kommt der schon voll besetzte Bus aus Elmpt (doch, es gibt tatsächlich Ortsnamen mit vier Konsonanten und nur einem Vokal) und ich stehe vor der Frage „Einsteigen oder auf den üblicherweise hier eingesetzten und daher völlig leeren Bus warten?“ Ich wähle die sichere Variante.
Mit meinem Einsteigen schießt der Altersdurchschnitt im Fahrzeug schlagartig in die Höhe. Nur Schülerinnen und Schüler im Bus. Schlaftrunken, im komatösen Wochenanfangsmodus. Jemand spricht mir aus der Seele: „Ich war gestern Abend noch so aufgedreht; ich bin voll wach eingeschlafen.“
Fast alle Knopf im Ohr, Daumen auf dem Display oder träge dösend. Fast alle. Diejenigen, die sich unterhalten, fallen umso mehr auf. Jedenfalls mir.
Schräg hinter mir die spannende Auseinandersetzung, ob Hunde oder Katzen nun die besseren Haustiere sind. Während Hajo das Seelenleben seiner Katzen Amy und Günter beschreibt (Günter fängt sofort an zu grinsen, wenn man ihn krault und Amy bringt, weil sie die Familie so liebt, immer Mäuse als Geschenke mit ins Wohnzimmer; manchmal auch unbemerkt), schwört Lisa („Günter? So heißt mein Onkel! Wie cool!“) auf ihren Collie und den Labrador. Beide erspüren sogar die Krankheiten ihres Frauchens und legen sich, je nach Diagnose, wahlweise aufs Gesicht oder auf ihren Bauch. Beide zusammen!
Bevor die Bilder in meinem Kopf schärfer werden, wende ich mich (zuhörend) den beiden Schülerinnen rechts neben mir zu. Die eine fragt der anderen Englisch-Vokabeln ab. Schweigend, aber konzentriert mache ich mit und bin überrascht über meine hohe Trefferquote. Ich fange mir allerdings böse Blicke ein, als die Abgefragte merkt, dass ich ihre Antworten mit Nicken oder Kopfschütteln kommentiere.
Anschließend erfahre ich noch aus dem Zwiegespräch zwischen der Abgefragten und der Fragenden, dass es in dieser Jahrgangsstufe drei schwangere Haupt- und ein schwangeres Nebenfach gibt. Verständlich, dass man jetzt sorgenvoll abwartet, ob Herr Schmitz, der üblicherweise alle Schwangeren vertritt, diesmal auch noch den Sportunterricht übernimmt. Das sei nämlich kein Einfacher. „Der findet sich selbst am witzigsten.“
Derweil textet in meinem Rücken ein kampferprobter Dragonball-Spieler seinen Nachbarn mit seinen Erfahrungen in diversen Fighter-Karrieren zu. Heute sei er viel höher als früher. Früher da war er nur Staff-Sergeant und jetzt, 40 Level und 27 Spiele weiter, sei er hoch dekoriert mit dutzenden von Auszeichnungen. Es beruhigt mich, einen solchen Helden an Bord zu wissen -trotz seiner momentanen Serverprobleme („Wenn die von der Telekom sehen, dass ich spiele, ziehen die schon den Stecker“), meint der Busfahrer doch offenbar, die gestrige Schlappe von Formel-1-Pilot Sebastian Vettel irgendwie gut machen zu müssen, indem er über jeden Kreisverkehr und jeden sich anbietenden Bordstein brettert.
Dann der Schock am Bahnhof der Vitusstadt: Die Baustelle im Eingangsbereich ist weg! Bis hoch ins Dach ist renoviert worden. Das hat fast schon ‘was Kathedrales. Die Halle wirkt luftig und einladend. Ok, die große Bahnhofsuhr ist auf 00:00 Uhr hängen geblieben. Aber man kann nicht alles haben.
Keine Überraschung dann, dass der IC von Aachen nach Berlin auf der kurzen Strecke bis in die Vitusstadt bereits zehn Minuten Verspätung eingefahren hat. Da der Zug außerdem noch umgekehrt gereiht angekündigt wird (Späßchen der Bahn; war dann gar nicht so; ist halt lustig, die Reisenden auf dem Bahnsteig hin und her flitzen zu sehen) und er auch noch vier Bahnhöfe gar nicht anfahren wird, reicht die Kapazität der Anzeigetafel leider nicht aus.
Ich steige in den Wagen mit der Nummer 6. Ein Uralt-Modell. Fast schon historisch. Teilweise mit Klappsitzen auf dem Gang. Platzreservierungen werden hier noch mit eingesteckten Pappkärtchen angezeigt. Doch dazu hatte die Zugbegleitung offenbar keine Zeit. Nichts deutet daraufhin, dass die Plätze 12 bis 28 für eine gemischte Schulklasse aus Krefeld Richtung Berlin reserviert sind.
Und dann steigen sie ein, die Kevins, Chantals und Cheyennes. Oha! Die Plätze sind besetzt! Die Überforderung liegt fühlbar in der Luft. Wie der pelzige Belag auf der Zunge, wenn man registriert, dass man in verschimmeltes Brot gebissen hat.
Lähmung macht sich breit. Der Zugbegleiter flüchtet in einen anderen Waggon. Der Schulklassenbegleiter (Lehrer) flüchtet sich in seine Buchungsunterlagen. Die Schulklassenbegleiterin (Lehrerin) steht noch auf dem Verbindungsblech zwischen Wagen 5 und 6. Die pubertierenden Schutzbefohlenen blockieren mit ihrem Gepäck Gänge und Abteiltüren. „Nun mach doch mal voran!“ „Hau mir noch einmal Deinen Koffer in die Hacken… Ich kann doch auch nicht weiter. Der Schrankkoffer von Cheyenne hat sich im Gang verkantet.“
„Will die damit auswandern, die alte F… ?“ (O-Ton Kevin, die letzten drei Worte nur gezischt).
Es reicht! So nicht, Kevin! Ich kann nicht anders (sorry, Lehrer!). Mein strafender Blick Richtung Kevin trifft ihn mitten ins Mark. Die ersten verteile ich dann mal auf die freien Plätze. Erkläre , dass man Koffer und Taschen nicht bis Berlin zwischen den Knien oder auf dem Schoß behalten muss, sondern auf den „Brettern“ über den Köpfen deponieren kann. Kleinere Einwände („Ich will aber nicht mit den Loosern hier ins Abteil, Herr …?“) kontere ich knapp und präzise („Sortieren könnt Ihr Euch immer noch, wenn sich der Knoten aufgelöst hat.“)
Noch vor Duisburg, wo ich umsteigen muss, bin ich als Autorität anerkannt. „Machen Sie auch die Zimmereinteilung?“
Ich bin zufrieden. Alle sitzen. Cheyenne auf dem Schoß von Dennis.
Jetzt aber raus. Vorbei an der Lehrerin, die gerade als Letzte den Ort des Geschehens erreicht. „Wissen Sie, wo hier das WC ist?“
Auf dem Bahnsteig weitere Schulklassen. So also löst die Landesregierung das Problem der maroden Klassenräume: Im Wechselschichtsystem immer einen Teil der Schülermassen in Busse, Züge und Jugendherbergen evakuieren.
Die zehn Minuten haben wir natürlich nicht aufgeholt, aber auf die Verspätung des Anschlusszugs ist heute Verlass. Geht doch !