So muss es sich anfühlen, wenn man in einem Sommergewitter vom Blitz getroffen wird. Auf halber Strecke zwischen Wohnort und dem Bahnhof in der Vitusstadt, platzt wie ein leicht überdosierter Stromimpuls die Information aus dem Kleinhirn an alle anderen Körperteile und -organe: DU.HAST.DEIN.HANDY.VERGESSEN. Quasi im gleichen Bruchteil einer Nanosekunde wird abgewogen, die Transe (liebevolle Kurzbezeichnung für mein Motorrad, eine Honda Transalp) herumzureißen und umzukehren oder weiterzufahren.
Weiterfahren. Sonst wird’s eng, zeitlich.
Unmittelbar nach dieser Entscheidung setzt das Gewitter im Kopf ein. Kein Anruf möglich, wenn der Sprit jetzt ausgeht, der Motor streikt, die Bahn ausfällt. Niemand, den ich anrufen könnte (mal abgesehen davon, dass ich keine einzige Nummer mehr im Kopf habe). Ich kann noch nicht mal zuhause anrufen, dass ich mein Handy vergessen habe. Wäre sowieso keiner da. Niemand, der mich erreichen könnte.
Heute Abend wird es Stunden dauern, die Anrufliste abzuarbeiten, die Voicemails abzuhören, die SMS, Whatsapps und E-Mails zu sichten.

IPad hab ich auch nicht dabei (hat ‘ne eigene SIM-Karte); damit könnte ich wenigstens E-Mails checken, wäre über das Weltgeschehen informiert, erführe, wenn die Bahn ausfällt. MacBook hab ich zwar dabei, aber (Apple-Philosophie) ohne SIM-Karten-Slot. Im Sitzungsraum, das weiß ich, kein WLAN. Fahrkarte mit der Handy-App: Kannste vergessen. Karte kaufen am Automaten. Nach meiner Berlin-Erfahrung diesmal sehr, sehr sorgfältig.
Und dann kommt es, wie es kommen muss: Der Zug (obwohl aus Aachen kommend überpünktlich!) bremst abrupt auf offener Strecke. „Technische Probleme am Bahnhof Neuss.“
Ganz vorne im Wagen ereifert sich eine Mitreisende spontan und lautstark über ihre Erfahrungen mit den Serviceleistungen der Bahn. Normalerweise fährt sie ja Mönchengladbach-Viersen-Krefeld, in Fachkreisen -so ihre Aussage- auch „Selbstmörder-Strecke“ genannt. Nach ihren Schilderungen behindern da mehrmals pro Woche Menschen in suizidaler Absicht ihr Bemühen, pünktlich den Arbeitsplatz zu erreichen.
Als wenn ich es nicht geahnt hätte! Jetzt hängen wir hier für den Rest des Tages bei vorhergesagten Außentemperaturen von 30 Grad weit entfernt von jedem Bahnsteig fest. Eingeschlossen wie zur Schlachtung bestimmte Pferde in rumänischen Viehtransportern, ohne von der Bahn im Krisenfall bereitzustellende Getränke und unerreichbar für jedes Rettungsfahrzeug. Während ich die Innentemperatur bereits auf 75 Grad wähne, der Schweiß zu rinnen beginnt und der Mund praktisch speichelfrei ist, wird mir klar, dass wir austrocknen, verdursten und schließlich verglühen werden. Und zwar genau in dieser Reihenfolge.
In dieser lebensbedrohlichen Situation haben ALLE, und ich meine wirklich ALLE in diesem Waggon ein Smartphone in der Hand und informieren gerade ihre Liebsten daheim über ihr bevorstehendes Schicksal. Und ich …
Da setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Ein raunendes Aufatmen geht durch die Sitzreihen.
Mindestens dreißig Sekunden haben wir gestanden, vielleicht sogar vierzig; aber wir haben überlebt.
Auch den Rest des Tages überlebe ich.
Volle acht Stunden ohne Handy.
Zuhause nehme ich es erst mal in den Arm.
Die Anrufliste ist übrigens leer, DHL kündigt per E-Mail ein Päckchen an und die Urlaubspiraten weisen über Whatsapp auf ein Error-Fare-Angebot hin (2 Wochen Kuba für 25,00 Euro oder so).
Sind wohl doch schon viele in Urlaub.