2. Mai 2018
Für den Rest der Woche nach Fulda
Einem kalten Tag der Arbeit soll eine Sommerwoche folgen
Ui, das war wieder knapp. 16 Minuten zu spät am Bahnhof. Im so genannten Schnellbus, der das Dorf auch für nicht motorisierte Menschen für 5,50 € (eine Fährt!) mit der Stadt verbindet, jedenfalls an Werktagen und auch nur im Stundentakt und den Zusatz „schnell“ seit einer Streckenumstellung schon lange nicht mehr tragen dürfte. Früher bretterte der voll besetzt, niemand angeschnallt, die meisten Leute stehend über die Autobahn. Braucht jetzt jedes Mal das anderthalbfache der im Fahrplan angegebenen Zeit.
„Damit muss man rechnen; im Berufsverkehr und bei hohem Fahrgastaufkommen.“ So die Auskunft des Verkehrsunternehmens auf eine Beschwerde. Sorry, die Strecke ist in der Zeit einfach nicht zu schaffen. Ich hab das jedenfalls noch nie erlebt. Auch nicht zur fahrgastfreien Ferienzeit mittags um 11:50 Uhr!
Kurzum: Raus aus’m Bus, Spurt über den Bahnhofsvorplatz, die Stufen zum Bahnsteig hochgestürzt. Puls 160. Blutdruck nicht mehr messbar. Totale Übersäuerung der Oberschenkelmuskulatur. Unterhemd, Hemd und Sakko am Rücken klebend. Multiples Versagen aller Duftnoten: Adidas (Duschgel), Prada (Eau de Toilette) und Old Spice (Deo). Zwei Bahnhöfe weiter sind zumindest die medizinisch relevanten Werte wieder im Lot.
Derzeit gehen meine Verbindungen wegen umfangreicher Bauarbeiten im Großraum Düsseldorf (Bundesligaaufsteiger) über die Stadt mit „K“ (Bundesligaabsteiger). Zwischen „D“ und „K“ braucht’s derzeit rund eine Stunde.
Köln, vollbesetzter ICE, die Abfahrt verzögert sich, Warten auf Reisende aus einem Anschlusszug. Genauer gesagt, eine Reisende: Ramona, mehrfach-wasserstoffperoxid-blondiert, Oberarm bis zum Hals tätowiert, extrem lebensbejahender Typ, aber ständig im Abwehrkampf gegen den Rest der Welt, vermutlich allein erziehend (Gott erhalte mir all meine Vorurteile). Shanya (1,5) sitz im voll bepackten Kinderwagen, Charlene (6) rennt vorneweg, den Koffer hinter sich herziehend. An der Tür wartet die freundliche Bahnmitarbeiterin, hievt Charlene in den Waggon und packt energisch helfend (man hängt jetzt schon 4 Minuten) die Vorderachse des Kinderwagens, der plötzlich -zwischen ICE 3 und Bahnsteig 6 schwebend- in Schräglage gerät, wodurch der auf Shania zwischengelagerte Kinderrucksack ins Rutschen, ins Fallen und schließlich zwischen Zug und Kante im Gleisbett zum Liegen kommt.
Mutter Ramona, Schnappatmung hat eingesetzt, zetert, dass nicht nur ihr Gesicht, sondern auch das Tattoo an ihrem Hals die Farbe wechselt:“Da ist unser ganzes Essen drin. Und wir haben noch viereinhalb Stunden Fahrt vor uns!“ Charlene:“Das ganze Essen? Auch die Brezel und mein Trinken?“ und geht übergangslos in hysterisches Weinen über. Shanya schließt sich an. Die freundliche (gr) Bahnmitarbeiterin schlägt vor, dass die Familie wieder aussteigt und den Rucksack nach Abfahrt des ICEs vom Fahrdienstleiter bergen lässt. Also, das käme ja jetzt gar nicht in Frage; stattdessen schlägt die Blondine vor, dass der Zug noch etwas stehen bleibt damit sie die Vorräte bergen kann. Auf den Einwand der freundlichen (grr) Bahnmitarbeiterin, das wäre viel zu schmal und zu tief und zu gefährlich, schlägt sie vor, Charlene hinab zu lassen oder wenigstens einen Besen holen zu dürfen (woher auch immer).
Dass dies keine Optionen sind, merkt Mutter, als das Piepen einsetzt, welches das Schließen der Türen ankündigt. Oha! Jetzt ist sie aber „im Moment sowas von richtig sauer. Das können Sie glauben.“ Tun die Leute in den angrenzenden Waggons, denen die Ansprache wohl galt, auch unbenommen. Das (die Brezel und das Trinken) werde sie sich von der Drecks-Bahn zurück holen.Wenn die Kuh von der Bahn zu blöd ist, einen Kinderwagen richtig zu packen. Das wird man schon sehen. Charlene will die Polizei rufen. Shanya schreit weiter. Die freundliche (grrr) Bahnmitarbeiterin verharrt lächelnd.
Erst einmal richtet Mutti Ramona jetzt für sich, ihre Kinder, das Gepäck und den Kinderwagen im Bereich der Türen ein kleines Camp ein; eine Platzreservierung hat sie nämlich nicht. Gerade hat Charlene eingeworfen, dass es doch im Zug Essen und Trinken zu kaufen gäbe, was von Mutti schroff abgelehnt wird, da tut letztere einen spitzen Schrei. Der Rucksack mit dem Essen ist doch noch im Kinderwagen; was fehlt ist der Rucksack mit Charlenes Schulsachen, was sie ihrer Tochter auch gleich einfühlsam mitteilt: „Alles weg! Deine Bücher! Das neue Schreibzeug! Deine Übungshefte! Deine Ergotherapie (?)! Und ab morgen sollst Du doch wieder zur Schule!“ Charlene, die sich spontan durch die Bahn aller Bildungschancen beraubt, im Geiste ihre Uni-Karriere wie eine Seifenblase zerplatzen und sich selbst in einem Frisörsalon Haare zusammenfegen sieht, bricht unmittelbar wieder in kreischendes Schreien und Weinen aus.
Es erscheint der freundliche Bahnmitarbeiter zur Fahrkartenkontrolle. Die freundliche (grrrrr) Bahnmitarbeiterin meidet offenbar ein weiteres Aufeinandertreffen. Auch der Kollege erfährt zunächst, dass Ramona „im Moment sowas von richtig sauer.“ ist und dass man ihr das glauben könne. Tut er! Während sie nun ansetzt, auch ihm (und erneut den Mitreisenden in beiden Waggons) den Sachverhalt, ach was: die apokalyptischen Vorgänge zu schildern, klingelt ihr Handy. Klingelton: „Perfect“ von Ed Sheeran, erste und zweite Strophe. Ihre Mutter ist dran, die sofort erfährt, dass ihre Tochter „im Moment sowas von richtig sauer ist.“ und dass sie ihr das glauben könne. Tut sie!
Parallel (!) schildert sie nun dem freundlichen Bahnmitarbeiter und ihrer Mutter und allen Mitreisenden die widrigen Umstände ihrer Fahrt. Die Schilderung endet mit der Zusage, dass der Zug-Chef hinzugezogen werden soll und einem Tunnel hinter Siegburg/Bonn, der die Mobilfunkverbindung mit Mutter kappt.
Der Zug-Chef erscheint unmittelbar, erfährt, dass die in seinem Zug mitreisende Bahnkundin „im Moment sowas von richtig sauer“ ist und dass man ihr das glauben könne. Das tut er sicher und greift, bestens geschult, in seinen Deeskalations-Koffer und fordert sie erst einmal im besten Bahnsteigslautsprecherdurchsagen-Modus auf, ihr Camp zu räumen. Schließlich seien der Ein- und Ausstieg im Falle eines Unfalls Notausgänge, deren Blockierung Menschenleben kosten könnten.
In diesem Moment denkst Du: Jetzt kommt der RTL-2-Regisseur aus der Zugtoilette gestürzt, schlägt die Klappe und brüllt: „Szene im Kasten. Super. Danke. Cut und Pause!“
Leider muss ich in Frankfurt (M) Flughafen Fernbahnhof raus (was gar nicht so einfach ist; schließlich müssen sich alle Aussteigenden irgendwie durchs Camp zwischen Wagen 23 und 24 kämpfen). Die Reise mit Ramona und ihrer kleinen Familie hatte bestimmt noch interessante Momente in petto. Schließlich dauert’s bis München noch gute dreieinhalb Stunden.