Vorweg: Das könnte jetzt eine längere Angelegenheit werden. Ich war schließlich eine ganze Wehrdienstzeit (W15-15 Monate- von 1973 bis 1990) im „Off“. Und Gefühlsakrobatik ist nicht so einfach in Worte zu kleiden. Ich versuch’s trotzdem:
Genau 479 Tage nach meiner letzten Bahnfahrt sitze ich zum ersten Mal wieder in einem Zug und schreibe an einem neuen Beitrag für meinen „Prellblog“. Die letzte Sitzung in Präsenz war am Freitag, dem 13. März 2020. Eine Woche vorher war ich noch mit knapp 60.000 Menschen beim Fußballspiel Borussia gegen Borussia. Dabei war im Kreis Heinsberg die Corona-Bombe schon eingeschlagen. Lautlos und unsichtbar. Während einer Karnevalssitzung.
Und an diesem Freitag würde man den Wintersportort Ischgl unter Quarantäne stellen, nachdem das Virus von dort bereits unbemerkt zu seiner tödlichen Mission durch ganz Europa aufgebrochen war. Mit verantwortungsloser Unterstützung von Profit-geilen Tourismus-Managern.
Noch während der Sitzung, wir hatten gerade die Absage der nächsten Veranstaltung auf Bundesebene beschlossen, rief der Mittlere an. Gestrandet auf den Philippinen; zusammen mit seiner Freundin; verzweifelt und ratlos. Präsident Duterte hatte die Flughäfen dicht gemacht. Keine Chance, auszufliegen.
Eindrücke und Bilder, die bleiben: Särge, die in Kolonnen mit Lastwagen zu den Krematorien gefahren werden. Tausende, die einsam sterben mussten, weil Angehörige nicht zu ihnen durften. Hamsterkäufe von Klopapier, Hefe und Mehl. Ein Flugzeug freier Himmel. Jammernde Gastwirte, jammernde Einzelhändler, jammernde Kulturschaffende, jammernde Eltern, jammernde Lehrer (wie viel Zeit für’s Jammern drauf gegangen sein mag, die man besser zur Lösungsfindung genutzt hätte), Hass-Parolen brüllende Demonstranten. Politiker, die konkurrieren statt kooperieren. Aktionismus versus Untätigkeit. Lockdown (nie so streng wie anderswo), Lockerungen, erneuter Lockdown. Planlosigkeit. Von einer Welle in die nächste. Bis heute 91.000 Tote in Deutschland. Und das Gefühl, dass es immer noch nicht vorbei ist, weil viele nicht begreifen wollen, dass es noch nicht vorbei ist.
479 Tage. Verbunden mit Angst und Zukunftsängsten. Angst, sich selbst zu infizieren, Angst um Angehörige. Angst, Kolleginnen/Kollegen in diesem Leben nicht mehr zu sehen. 16 Monate Home-Office. Weder privat noch dienstlich unterwegs in ÖPNV oder Fernverkehr. Keinerlei persönlicher Kontakt mehr zu Kolleginnen und Kollegen. Begegnungen nur noch in Videokonferenzen. So hatte ich mir die verbleibenden Monate bis zur Rente nicht vorgestellt.

Heute, 15 Monate, 3 Wochen, 2 Tage, ein Kurzurlaub auf Korfu1), eine Hochzeit2) und eine Blinddarm-OP3) später, hat sich -gefühlt- nichts geändert: das Leben serviert mir die Themen auf dem Silbertablett. Es geht schon los beim Koffer packen. Eine gewisse Ratlosigkeit ist der Routine gewichen. Hoffentlich ist die Zahnpasta nicht ausgetrocknet. Am Ende habe ich etwas Langärmeliges vergessen, was sich zum abendlichen Kneipenbesuch im Regen als fatal erweisen soll.
Es setzt sich fort im Kreisverkehr beim Aldi im Nachbarort, wo die Fahrerin des nur minimal besetzten Gelenkbusses die Ausfahrt verpasst. Wenden geht nicht, weil Kreis klein und Bus lang. Es folgen 10 Kilometer Irrfahrt bis wir wieder auf Kurs sind und die planmäßige Haltestelle erreichen.
Am Düsseldorfer Hauptbahnhof tausche ich mich mit einem verzweifelten jungen Mann aus, auf dessen Smartphone ein Zug zur Weiterfahrt ausgewiesen wird, den es weder in meiner Äpp noch auf den Aushängen gibt. Und schließlich schafft es der ICE sich zwischen Düsseldorf und Siegburg/Bonn 15 Minuten Verspätung einzufahren.
Auf der Rückfahrt darf ich dann noch ein fünfköpfiges IT-Team erleben, das eine Software testet, mit der man im Zug Essen und Getränke per Smartphone bestellen kann. Die fahren schon den ganzen Tag in ICEs herum. Gerade wird heftig diskutiert, ob 11 Minuten zwischen bestellen und servieren eines Bieres zu lang sind. In einem Zug zum Oktoberfest nach München eindeutig zu lang. Für einen Frauenkegelclub ok, weil die haben eh eigenen Prosecco oder Hugo im Rucksack (worauf prompt über die Erweiterung des Getränkeangebotes debattiert wird). Über solche und ähnliche hoch interessante Fragestellungen tauscht sich das Team ununterbrochen und lautstark aus – in der Ruhezone meines Waggons.
In Köln-Messe-Deutz 11 Minuten Zeit zum Wechsel nach Gleis 5. Blöderweise wird dort gerade die Treppe weggebaggert. Umleitung? Nix ausgeschildert. Freundlicher Bahnmitarbeiter hilft weiter. „Do musse hee die Trepp noa Jleis eens huh und dann dä janze Bahnsteisch längs, bes am Eng, dann ronger, links un widder hu. Evver flück. Dä kütt hück pünktlisch!“4)
Aber ganz ehrlich? Oder, um es mit den Worten des großen Philosophen Wendler auszudrücken: Egal!
Ich hab’s genossen! Die Fahrt, den Blick aus dem Fenster, die vielen baulichen Veränderungen entlang der Strecke, …
Mich hat das Virus verschont. Bin inzwischen zweifach geimpft. Und ich hoffe, dass alles so normal bleibt wie heute.
Am Ende sei dann auch noch Poppa5) zitiert: „Es gibt ein Licht ganz am Ende des Tunnels.“
Aber bitte, jetzt bloß nicht niesen!

1) Das Lockdown-Fenster im Herbst optimal für einen Besuch bei den Freunden auf Korfu genutzt.
2) Der Mittlere hatte es dann doch noch mit freundlicher Unterstützung der Bundesregierung von den Philippinen nachhause und ein Jahr später vor den Traualtar geschafft und dem Autor die zweite Großvaterschaft in Aussicht gestellt.
3) Nach 65jähriger Zusammenarbeit mussten wir uns leider kurzfristig und unter großen Schmerzen trennen.
4)„Da musst Du hier die Treppe hoch nach Gleis 1 und dann den ganzen Bahnsteig entlang bis zum Ende, dann hinunter, links und wieder hinauf. Aber flott! Der (Zug) kommt heute pünktlich.
5) Starlight-Express, die Dampflok